Wo ein Krater liegt, muss es einen Vorfall gegeben haben. Etwas ist eingeschlagen oder ausgebrochen, wo jetzt Ruhe ist. 2012 spien Messer ein fiebriges Debüt in die brodelnde Begeisterung für Punk aus Deutschland und wuchsen zu einer prägenden Stimme im Post-Punk-Revival der Zehnerjahre – vermutlich gerade, weil sie bis heute quer zur Gegenwart liegen, sie zwar im Blick haben, streifen, aber eben nicht in ihr aufgehen oder sich von ihr treiben lassen. Zahlreiche Rockbands reden sich so ihren Stillstand schön, wo die Gruppe Messer der Glaube an das Format Band nach vorne bringt. Vier Menschen – Pogo McCartney, Milek, Hendrik Otremba, Philipp Wulf – die immer wieder zusammenkommen, aus ihren Leben und sonstigen kreativen Arbeiten, mit neuen Bekanntschaften und Impulsen, um auszutarieren, wie ihre gemeinsame ästhetische Vision eigentlich gerade aussehen kann.
Dem neuen Album ist die Feier dieses Konzepts anzuhören. Vermutlich auch, weil das Album eine Phase der Reorganisation abschließt, die auch zuletzt auf No Future Days (2020) noch in vollem Gange war: Nach Jalousie (2016) nämlich fand sich die neue Viererbesetzung bewusst ohne Gäste und erstmals komplett eigenständig produziert in einem Richtung Dub und Funk verschobenen Sound ein. Was auf den letzten beiden Platten noch wild wucherte, ist nun stärker begriffen und gibt zugleich Sicherheit für weiterführende Expeditionen. Eine Kratermusik ist entstanden!
Die einzelne Idee ist schärfer konturiert als zuletzt, Kratermusik ein Album im Wortsinn: Jede Seite ein anderes Bild, eine andere Szene mit anderen Figuren, zusammengehalten von einem Einband, einer Motivwelt, einem Sound, der dieses Mal dicht, aber umso detaillierter ausfällt. In einem Prozess über zwei Jahre haben Messer immer wieder Schichten auf- und abgetragen, zu denen insbesondere charismatische Synthesizer und die nun wieder zahlreichen Gäste beigetragen haben. Statt prominenter Features mit möglichst großem Social-Media-Impact setzen Freunde, Familie und Kollegen Akzente. Besonders verblüffen Philipp Wulfs Eltern Friedhild und Ludger, die Bläsersätze zu gleich drei Songs beisteuern. Ihre Gameshow-Buzzer-Sounds im schnittigen Schweinelobby (Der Defätist) begeistern ebenso wie die Hafenkneipen-Atmosphäre, die sie dem jazzigen Art-Pop-Stück Kerzenrauchers letzte Nacht einhauchen, während Hendrik Otrembas Stimme in Dub verschwindet.
Auch an anderer Stelle lösen sich Stimmen auf: Pola Lia Levy, die lange schon eng mit der Band befreundet ist und gerade mit ihrer neuen Band Dews in den Startlöchern steht, spendet Harmonien, die im erst sachten, dann zunehmend mitreißenden Im falschen Traum mit dem Rest der Band verschwimmen. Im Space-Dub-Finale Am Ende einer groszen Verwirrung stimmt sie mit Joachim Franz Büchner in einen beherzten Singsang ein. Was hier tröstlich klingt, wirkt im vielstimmigen Spiegel zerrissen, wenn auch nicht zwingend unheimlich – sondern ähnlich faszinierend-ambivalent wie Mille Petrozza von der legendären Thrash Metal-Band Kreator, der mit einigen englischsprachigen Zeilen durch den wispernden Refrain am Ende des Wave-Epitaphs Grabeland schneiden darf.
Nicht nur hier entdecken Messer die Lust an der Pointe. Weniger im Sinn von Gags, sondern als Strukturmerkmal, als kreativer Motor: Ideen so zuspitzen wie der funky C-Part im sowieso keck betitelten Schweinelobby (Der Defätist), der an Crossover und Las Vegas denken lässt. Oder Dinge zusammenbringen, deren Ähnlichkeit sich nicht direkt aufdrängt, wie Eaten Alive, in dem Otremba erst den Perversen gibt, im Refrain mit Bruder Dominik (aka Performance) windschief die Titelzeile grummelt und darauf einen Jodler folgen lässt. Überhaupt, all die Geräusche hier, ständig ein ‚Hu!‘, ein ‚E-oh‘ oder ein beschwingtes ‚Hey!‘. Bei aller Souveränität ist Kratermusik auch eine ungezügelte, lockere Platte.
Der Humor hat sich im Prozess entwickelt, passt aber zum eher kompakten Sound der Platte: Beides baut Pathos ab, lange dominanter Modus der Band. Vielleicht ist das ein Zeichen zunehmender Souveränität („Humor durch Reife“ nennt es Otremba einmal im Gespräch), womöglich aber auch ein notwendiger, zeitgemäßer Umgang mit nicht minder schweren Themen. Vergänglichkeit zieht sich durch die Texte, biografisch und abstrakt, als Erlösung und Last, eingefasst in Zeilen, durch die dann doch recht deutlich unsere Gegenwart hallt. „Frieden finden – aber wie?“ fragt eine Schülerin zu Beginn, am Ende streift eine Figur durch eine desolate Landschaft, dem Cover nicht unähnlich. Dort wirkt die karge Landschaft, deren Bewohner Schatten bleiben, kaum bedrohlich, erscheint je nach Blickwinkel sogar idyllisch. Und auch ganz am Ende des Albums steht, in Anlehnung an Leonard Cohen, ein gemeinsam geträllertes „Lalala“.
Messer bleiben also ambivalent, fragend und suchend, gerade wenn es um Krieg und Frieden oder die Zukunft des Planeten geht. Die Bewegung steckt schon im Titel: Das „Messer verwandte Wort“ Krater, so Otremba, „ist vieldeutig, ein Wort, bei dem klar ist: Zu dem muss man sich verhalten. Das ist ein scharfkantiges, schroffes Wort.“ Im Krater steckt immer auch das Potenzial zur Explosion, im Frieden lauert der nächste Krieg.
Im Vorrang des Ästhetischen ist Kratermusik ein typisches Messeralbum, auch in seiner gewohnten Überschreitung dessen, was Post-Punk sein kann. Vielfältiger klang diese Band nie, ihr Referenzsystem bleibt undurchschaubar. Parallel spülen die Pop-Gezeiten wieder eine (Neue) Neue Deutsche Welle an, doch Messer bleiben ihren eigenen Zyklen verpflichtet, befinden sich in ständigem Übergang: Metaphern nie ganz auflösen, Motive immer neu ausleuchten, Sounds nochmal anders aufeinander beziehen. Irgendwo in diesen zwölf neuen Songs brodelt sicher schon das nächste Thema, die nächste Verwandlung. Jetzt gilt es aber erstmal, durch die verwinkelte Kraterlandschaft zu steigen, die Messer 2024 charakterisiert – und ihren Status als herausragende Band ihrer Generation mit dicker Linie unterstreicht.
- Sebastian Berlich
- MELLER
- MINAMI DEUTSCH